Erster Schultag, neue Klasse, Aufregung. Man beschnuppert sich vorsichtig. Das Klassenzimmer sieht noch aus wie damals, als ich noch zur Schule ging: Tische, Stühle, Kreidetafel, dreckiger Schwamm und die Luft ist muffig. Allerdings habe ich den Platz gewechselt. Nun stehe ich vorne und viele Augen gucken mich erwartungsvoll an.

In meiner Ausbildung zum Pfarrer, dem Vikariat, sind die ersten sechs Monate dem Religionsunterricht gewidmet. So durfte ich im Gymnasium Südstadt und im Georg-Cantor-Gymnasium verschiedene Religionsklassen kennenlernen und unterrichten. Das halbe Jahr verging wie im Flug und die Arbeit in der Schule hat mir große Freude bereitet. Viele junge Menschen mit ihren wunderbaren Persönlichkeiten, ihren Launen und ihren fantasievollen Ideen haben die Schulstunden zu inspirierenden und lehrreichen Begegnungen gemacht. Nach einigen Jahren Theorie im Studium konnte ich mich in der Praxis erproben und neu ins Nachdenken kommen.

„Machen“ ist wie lesen, reflektieren und diskutieren, nur viel krasser. Durch dieses „Machen“ habe ich noch einmal einen neuen Blick gewonnen. In der Uni wird das „Perspektivwechsel“ genannt. Tatsächlich ist für mich die Perspektive der Kinder und Jugendlichen in der Schule sehr wichtig geworden. Auch dafür gibt es schlaue Worte wie z. B. Schüler:innen-Orientierung. Eine Grundsatzfrage hat sich für mich daraus besonders ergeben. Sie stellt sich immer, wenn es in irgendeiner Weise darum geht, dass Menschen etwas gezielt lernen wollen oder auch sollen: Plane ich den Unterricht ausgehend von den Inhalten oder ausgehend von den Menschen, die da vor mir sitzen?

Natürlich geschieht beides gleichzeitig. Aber meistens ist doch eine deutliche Gewichtung zu erkennen. Worauf lege ich meinen Schwerpunkt bzw. in welches Verhältnis setze ich die Kinder und Jugendlichen mit ihrer Lebenswelt und ihren Interessen auf der einen Seite und den Inhalten, die traditionell Gegenstand von Religionsunterricht sind (wie z. B. biblische Geschichten, Jesus als historische Person und Jesus als Gottes Sohn etc.) auf der anderen Seite? Ich wage zu behaupten, dass das wirklich eine Kernfrage für pädagogisches Handeln ist.

Allein vom Wort „Pädagogik“ her bin ich dem Kind (griech. pais) verpflichtet. Die lernende Person sollte im Mittelpunkt stehen. Nur sie kann entscheiden – bewusst oder auch unbewusst, was sie wirklich lernen wird – langfristig. Da kann ich einen ganz einfachen Test machen: Was weiß ich denn noch aus meiner Schulzeit und warum weiß ich das noch? Natürlich ist die Entscheidung, was ich lerne, nicht frei. Das fängt schon mit der Schulplicht an, hinzu kommen der Leistungsdruck und die Härte einzelner Lehrpersonen, die zumindest in früherer Zeit das Erlernen ihres Stoffes erzwungen haben.

Die Frage also, was ich mir nach Jahren aus der eigenen Schulzeit behalten habe, reicht noch nicht aus. Darüber hinaus ist spannend, welche Inhalte und Themen zu meinen Themen geworden sind. Was ist mir inhaltlich nach der Schule geblieben, was habe ich weiterverfolgt in Ausbildung, Beruf oder Freizeit? Gehe ich dem auf die Spur, bekomme ich schon mehr ein Gefühl dafür, dass ich selbst entscheide, was ich lerne und behalte. „Prüft aber alles und das Gute behaltet.“, schreibt der Apostel Paulus. Allerdings spielt eine wesentliche Rolle, ob ich mich beim Lernen mit den Menschen – den Lehrpersonen und den Mitschüler:innen – wohlgefühlt habe. Daran erinnere ich mich ganz sicher und das hat mich und mein Lernen sehr geprägt.

Zurück also zu meiner Grundsatzfrage: Wie gewichte ich Lernende und Inhalt? Am Selbsttest kann ich feststellen, wie wichtig die Beziehung zwischen Lernenden und Lehrenden ist. Das belegen auch einige Studien. Der Weg zu einem effektiven und langfristigen Lernen führt also über gute Beziehungen. Bei der Auswahl und Gestaltung der Inhalte gehe ich von den Interessen und der Lebenswelt der Lernenden aus. Das bedeutet nicht, dass ich nur das unterrichte, was interessiert. Aber es bedeutet, dass ich so unterrichte, dass es zumindest für einige interessant wird, ja im Idealfall sogar wirklich lebensrelevant. Wenn die Schüler:innen das Gefühl bekommen, es geht hier um sie selbst, um ihr Leben und ihre Fragen, fühlen sie sich gesehen, ernstgenommen und können sich mit den Inhalten identifizieren.

Beim Unterrichten gehe ich nicht davon aus, alle Antworten schon zu haben und den Schüler:innen nur vermitteln zu müssen, die richtigen Fragen zu stellen. Nein, ich habe die Antworten auch nicht alle und ich bin offen und gespannt, neue Antworten im gemeinsamen Lernen zu entdecken. Manche scheinbar abgedroschenen Themen können so plötzlich in neuem Licht erscheinen. Das bedeutet manchmal auch Mut, Dinge bewusst anders zu machen als üblich. Selbst in den Religionsklassen habe ich zuweilen hauptsächlich Kinder und Jugendliche erlebt, die sich weder als christlich noch als gläubig bezeichnen. Wie finde ich da ein gutes Verhältnis von Lernenden und Inhalten? Kann ich diese Schüler:innen für christliche Themen und Perspektiven begeistern? Ja, das kann gelingen. Aber dafür muss ich offen sein, offen sein für andere Vorstellungen und Ideen, auch offen sein dafür, meinen Glauben und meine theologischen Überzeugungen zu hinterfragen bis dahin, Inhalte auszulassen, um dem mehr Raum zu schaffen, was jetzt gerade für die Gruppe dran ist.

In diesem Sinne wünsche ich allen Menschen in ihren pädagogischen Beziehungen einen guten Blick füreinander und viele dieser Momente des gegenseitigen Lernens und Begeisterns. Vielleicht kennen wir uns noch nicht…

Fridolin Wegscheider