Wir haben einen Lesekreis. In diesem Kreis haben wir ein Buch gelesen. Abgemacht war, monatlich eine gewisse Zahl an Seiten und Kapiteln zu lesen, um dann gemeinsam über das Gelesene zu reden. Es ging um Mystik und um Poesie, um Atem und Quantenphysik, um Islam und Jesus. Schließlich kamen wir auf den dunklen, geheimnisvollen Gott und das Opfer. Daran scheiden sich oft die Geister. Der Autor zitiert ausgerechnet Mahatma Gandhi, der behauptet: Religion ohne Opfer sei gesellschaftsschädlich. Gandhi meint das sinngemäß wohl so, dass ein Glaube ohne Konsequenzen kein gutes Vorbild sei. Noch schlimmer allerdings ist folglich Heuchelei. Wir beließen es nicht dabei, sondern diskutierten, welche Rolle das Opfer überhaupt in den Religionen spielt. Insbesondere ging es uns natürlich um den Tod Jesu am Kreuz. Ich will jetzt nicht nur auf die vorgetragenen Verständnisfragen eingehen, sondern durch ein paar Worte versuchen, das paradoxe Zeichen etwas zu erhellen.

Unsere Welt ist voller Kreuze und längst nicht alle haben eine christliche Bedeutung: Verkehrskreuzungen, Fensterkreuze und Orte wie Kreuzberg oder Kreuzvorwerk. Wir machen unser Kreuz auf den Lottoschein oder einen Wahlzettel oder setzen drei Kreuze als Ersatz einer Unterschrift unter einen Brief oder Vertrag.

Zugleich können wir die Spuren des Kreuzes als Spuren des Leides nicht übersehen. Viele Menschen und auch die anderen Kreaturen tragen ihr Kreuz. Dabei kommt das Kreuz als rechter Winkel in der Natur selten vor. Wir wissen nicht, ob Jesu Kreuz aus zwei Balken rechtwinklig zusammengefügt war. Vielleicht bog sich der Querbalken wie auf dem Bild des Isenheimer Altars oder der vertikale Balken endete am Querbalken wie beim Kreuz der Franziskaner. Wenn noch ein Corpus auf dem Kruzifix ist, so neigt dieser seinen Kopf oft zur Rechten. Das haben auch Kirchen in ihrem Grundriss aufgenommen, sodass der Chorraum sich aus der Sicht der Gemeinde dann natürlich nach links neigt.

Auf jeden Fall ist das Kreuz als Opfer keine Genugtuung für Gott. Er braucht kein Opfer, um seinen Zorn oder seine Enttäuschung über die menschliche Geschichte mit Blut zu stillen. Wenn ein Mensch – oft sehen wir das eher an Katholiken – ein Kreuz schlägt und dafür den Raum vom Kopf bis zum Geschlecht und von Herz und Hand ausmisst, dann stellt er sich in den Raum der Erlösung Christi. Alle Kräfte und Sehnsüchte, alle Versäumnisse und Verletzungen werden in den Raum der Erlösung Christi hineingenommen. Alles gehört zu Gott, nichts muss draußen bleiben.

Jesus mußte vom Alter her ja noch nicht sterben, als er starb, sondern er tat es, um den gewaltsamen, ungerechten Tod der Menschen aufzunehmen. Er trägt damit dazu bei, die Durchkreuzungen unserer Lebensfreude und Lebensziele erträglicher zu machen. Und er verwandelt den Tod aus einem nichtigen und endgültigen Schicksal zu einem Zeichen des Lebens. Denn die Menschen mussten Karfreitag ohne das Wissen um Ostern nur ein einziges Mal erleben. Danach kommen wir immer schon von der Auferstehung her.

Jesus hat nicht den Tod in Stein gemeißelt, sondern am Holz hinaufgetragen. Das Grab war zu Ostern leer und der Stein beiseite gerollt, aber das Kreuz zeugt von der überwindenden Kraft des Lebens. Die Auferstehung Jesu kann uns Flügel verleihen, uns aus dem Leid und der Kränkung zu erheben und schließlich von der rückwärtigen Sicht auf das Verlorene zurückzuschauen. So sind wir paradoxerweise durch ein Zeichen des Todes mit dem Leben verbunden und werden gesegnet.

Pfr. Ralf Döbbeling