Die folgenden Auszüge stammen aus einer Predigt, die Dorothea Vogel am 10. Juli zum 4. Sonntag nach Trinitatis gehalten hat.

„Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte.“ (Joh 8,3)

Sie ist das Objekt der Geschichte. Wortlos, stimmlos und rechtlos steht sie dort, wo sie hingestellt wurde – in der Mitte. Die Frau ist beschämt und verängstigt. Starr steht sie da, wie versteinert, und blass sieht sie aus. Innerlich hat sie mit ihrem Leben schon abgeschlossen. Das Urteil ist so gut wie gefällt. Sie hat keine Perspektive.

Ich möcht dieser stimmlosen Frau heute eine Stimme verleihen. Ihrer Wortlosigkeit die Worte des Liedes „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr“ gegenüberstellen.

EG 382,1
Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr;
fremd wie dein Name sind mir deine Wege.
Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott;
mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen?
Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt?
Ich möchte glauben, komm du mir entgegen.

Die Hände der Frau sind leer. Die Ankläger haben die Steine quasi schon in der Hand und damit die Entscheidung über Leben und Tod. Einen fremden Weg ist sie gegangen, als sie fremdgegangen ist. Einen neuen, fremden Weg wird sie gehen, den Weg der Umkehr und zum Leben. Ihr Los ist der Tod durch das Steinigungsurteil. Sie fragt nach anderem Segen und nach Zukunft. Und Jesus verheißt sie ihr: „Geh hin“, sagt er zu ihr. Und ein neuer Weg öffnet sich ihr.

EG 382,2
Von Zweifeln ist mein Leben übermannt,
mein Unvermögen hält mich ganz gefangen.
Hast du mit Namen mich in deine Hand,
in dein Erbarmen fest mich eingeschrieben?
Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land?
Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?

Die Frau ist gefangen in ihrem eigenen Unvermögen, d. h. Gottes Gebote zu halten und seinen Willen zu tun. In diesem Fall ihre Sexualität in der Ehe zu leben. Sie hofft, gegen den Augenschein, auf Erbarmen, wenn sie fragt, ob sie in Gottes Hand und sein Erbarmen eingeschrieben sei. Als Zeichenhandlung schreibt Jesus auf die Erde. Ob sie das als Ja deutet und neue Hoffnung schöpft?
Ein Perspektivwechsel wäre die Lösung. Etwas mit neuen Augen sehen zu können. Sich selbst mit ganz neuen Augen zu sehen. Eine neue Sichtweise ändert ihre Situation und macht ihr verändertes Handeln, macht Umkehr erst möglich.

EG 382,3
Sprich du das Wort, das tröstet und befreit
und das mich führt in deinen großen Frieden.
Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt,
und lass mich unter deinen Kindern leben.
Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst.
Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.

„Sprich du das Wort, das tröstet und befreit!“ Jetzt schaut die Frau Jesus hoffnungs- und erwartungsvoll an. Und Jesus, der sich wieder gebückt hat, richtet sich auf und spricht zu ihr: „Wo sind sie, Frau?“ Und diese Ansprache bringt die Veränderung. Jesu Ansprache verwandelt die Frau vom Objekt zum Subjekt; macht sie sprachfähig und antwortfähig und verantwortungsfähig.

„Du, Frau. Ja, genau du. Dich meine ich. Hat dich niemand verdammt?
Sie aber sprach: Niemand, Herr.
Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht.“
Er richtet sie auf.
„Geh hin, d. h. ich schließe dir eine neues Land, ein neues Leben auf, und sündige hinfort nicht mehr. Lade von jetzt an keine Schuld mehr auf dich. So kannst du unter deinen Kindern, unter Deinesgleichen leben.“

Das erwartete Urteil über die Frau entfällt. Sie wird nicht verurteilt. Das Urteil wird ausgesetzt. Sie wird nicht ge-richtet, sondern vielmehr auf-gerichtet und neu von Jesus aus-gerichtet für ihren neuen Lebensweg. Dieser beginnt heute. Jesus gibt der Frau ihre Würde, ihr Ansehen und ihre Handlungsfähigkeit zurück und weist ihr den Weg nach Gottes Willen. Die Frau preist Jesus als ihr tägliches Brot und ihren Atem.

Beides ist lebens-not-wendig. Beides macht Leben erst möglich.

Dorothea Vogel